Nachlese
Gedenktag für die Vertreibung der Ungarndeutschen: Lorenz Kerner legte den Grundstein für die Partnerschaft mit Mohács
Gesetze über die Kollektivschuld wurden annulliert
Bensheim/Mohács: In Ungarn wurde am
19. Januar 2016 bereits zum vierten Mal all
jener Ungarndeutschen gedacht, die nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges von dort
vertrieben wurden. Das Datum wurde
bewusst so gewählt, weil es den Jahrestag
des Beginns der Vertreibung 1946 markiert.
Der Beschluss wurde im Dezember 2012 im
ungarischen Parlament gefasst – und zwar
einstimmig und über alle Parteigrenzen
hinweg.
Ungarn gehörtezu den ersten osteuropäi-
schen Ländern, die bereits 1990 die Vertrei-
bung der Deutschen aus dem eigenen Land
öffentlich bedauerten. Es setzt mit diesem
Gedenktag ein deutliches Zeichen gegen
Vertreibungen und ethnische Säuberungen
– und erteilte der Kollektivschuldtheorie
durch Annullierung solcher Gesetze eine
deutliche Absage.
Der Präsident des Bundes der Vertriebe-
nen, Deutschland, Dr. Bernd Fabritius
sagte in der vergangenen Woche: „Ich be-
grüße es, dass Ungarn dem Schutz von
Identität sowie der Ächtung von Vertrei-
bungen und ethnischer Säuberung mit diesem Gedenktag einen so hohen Stellenwert einräumt.“
Lorenz Kerner legt das Fundament
Dass der Gedenktag am 19. Januar in ganz Ungarn heuer zum vierten Mal begangen wird – vor 70 Jahren wurden die ersten
Menschen vertrieben –, ist auch das Verdienst von Lorenz Kerner, der übrigens den Grundstein für die Partnerschaft zwischen
Bensheim und Mohács legte. Kerner war damals Studioleiter bei Radio Pécs, aber auch Verantwortlicher für alle
Nationalitätenprogramme des Ungarischen Rundfunks.
Lorenz Kerner wurde 1946 in Jood/Gyód geboren. Er besuchte den deutschen Klassenzug des Leôwey-Gymnasiums in
Fünfkirchen, anschließend studierte er an der Pädagogischen Hochschule der Stadt Germanistik sowie ungarische Literatur und
diplomierte als Grundschullehrer. Bereits als Student engagierte er sich für die Pflege der ungarndeutschen Kultur und Bildung
und wurde in den Unterrichtsausschuss des Verbandes der Ungarndeutschen gewählt.
1985 wurde der erste deutsche Kulturverein in Ungarn und in ganz Osteuropa überhaupt, der Lenau-Verein in Fünfkirchen
(Pécs), gegründet. Der Spiritus rector dabei war Lorenz Kerner. Bis heute steht er an der Spitze dieses Vereins, der eine rege
Tätigkeit entfaltet. Zwischen 1995 und 1998 war Lorenz Kerner stellvertretender, dann Vorsitzender der Landesselbstverwaltung
der Ungarndeutschen. Lorenz Kerner ist heute Unternehmer, geschäftsführender Gesellschafter mehrerer Firmen. Er unterstützt
aber weiterhin die ungarndeutsche Kultur.
Am 10. November 1985 fuhr Bensheims Bürgermeister Georg Stolle, zusammen mit Hanns Verres vom Hessischen Rundfunk
nach Mohács, um dort die Stadt Bensheim beim Radioquiz zu vertreten. Lorenz Kerner moderierte die Sendung. Die Farben von
Mohács vertrat Bürgermeister Dr. Elemér Németh. Am Ende des Quizes hatte Mohács mit einem Punkt Vorsprung die Nase
vorne. „Zum Glück“, sagte heute, nach 31 Jahren, Georg Stolle. „Wer weiß, was aus der Partnerschaft geworden wäre, hätten
wir gewonnen.“
Das Verdienst Dr. Janos Hargitais
Dass der 19. Januar zum Gedenktag an die
Vertreibung wurde, ist aber auch das große
Verdienst von Dr. Janos Hargitai, der sich für
diesen Beschluss maßgeblich eingesetzt
hat. Bei einer Reise des deutsch-
europäischen Bildungswerkes im Jahr 2012
zeigte sich die hessische Delegation – an
der Spitze der Bensheimer
Ehrenbürgermeister Georg Stolle – vom
Vortrag des deutschstämmigen Dr. Janos
Hargitai, Präsident der Generalversammlung
des Komitats Baranya in der
südungarischen Metropole Pécs sehr
beeindruckt. Dr. Hargitai erinnerte an die
unmenschliche Vertreibung der Deutsch-
Ungarn nach dem Zweiten Weltkrieg aus
ihrer angestammten Heimat sowie ihrer
später gestatteten Rückkehr. Hargitai
erwähnte aber auch die im Jahr 1990 vom
ungarischen Parlament ausgesprochene
Entschuldigung bei den Vertreibungsopfern.
Und Lorenz Kerner betonte damals, bei
derselben Veranstaltung in Pécs: „Die
Minderheitenselbstverwaltungen in Ungarn
waren der erste und die Berufung eines
Minderheitenbeauftragten im Parlament der
zweite Schritt im Ausbau der demokratischen
Vertretung der Minderheiten. Wir sind stolz
darauf, dass in allen Parlamentsfraktionen in
Budapest auch Ungarndeutsche sitzen, in
manchen sogar mehrere.
150.000 kamen nach Baden-Württemberg
Bis Juni 1948 wurden mindestens 185.000 deutschstämmige Ungarn enteignet und ihre Staatsbürgerschaft aberkannt. Fast
dreiviertel der Immobilien und gut 100.000 Hektar Land wurden den Ungarndeutschen genommen. Die Vertreibung fand dabei
zunächst in die amerikanische Besatzungszone, überwiegend nach Baden-Württemberg, statt. Nachdem 130.000 bis 150.000
Menschen vertrieben worden waren, stoppte die amerikanische Verwaltung jedoch die Transporte, da die Versorgung der
Vertriebenen und Flüchtlinge zunehmend Schwierigkeiten bereitete. Daraufhin wurden auf Wunsch der ungarischen Regierung
insgesamt 33 Transporte aus den Jahren 1947 und 1948 in die sowjetische Besatzungszone Deutschlands, vorwiegend in den
Raum Dresden, Bautzen, Zwickau, umgeleitet. Dies betraf etwa 40.000 bis 50.000 Menschen. Nach Ende der Maßnahmen war
die deutsche Minderheit in Ungarn auf etwa die Hälfte reduziert. Zudem erfüllten sich die Hoffnungen der ungarischen Regierung
nicht, dass die Vertreibung einige Probleme des Landes lösen würde. Stattdessen trat der zuvor befürchtete Präzedenzfall ein.
Die Tschechoslowakei berief sich bei ihrem Umgang mit der ungarischen Minderheit Explizit auf das ungarische Beispiel.
„Kollektivschuld annulliert“
In der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Vertreibung ein stetig wiederkehrendes Thema in der
Bundesrepublik Deutschland und in ihren Beziehungen mit ihren östlichen Nachbarn. Umso bemerkenswerter ist daher der
Umgang der Ungarn mit diesem Kapitel ihrer Geschichte. Schon kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, im Jahre
1990, distanzierte sich das ungarische Parlament von der Vertreibung und das Verfassungsgericht annullierte die Gesetze über
die „Kollektivschuld“ aus dem Jahre 1945. 1995 entschuldigte sich der damalige für Minderheiten zuständige Staatssekretär
Csaba Tabajdi im Namen der ungarischen Regierung für die Vertreibung und 2006 wurde – zum 60. Jahrestag des Beginns der
Vertreibung – eine Landesgedenkstätte und ein Denkmal im Budapester Vorort Budaörs errichtet. An jenem Ort, wo die
Vertreibung begann. Zu diesem Anlass erklärte der damalige Staatspräsident László Sólyom: „Als Staatspräsident entschuldige
ich mich bei den vertriebenen Schwaben (Ungarndeutschen) und ihren Familien für das ihnen widerfahrene Unrecht und die
Ungerechtigkeit und verneige mich vor dem Denkmal der Erinnerung der Vertriebenen in der Hoffnung, dass die
Ungarndeutschen hier wieder zu Hause sind.“
Text: Franz Müller; Fotos: Deutsch-Europäisches Bildungswerk
19. Januar 2016
Siehe dazu auch:
„Ungarn begeht vierten Gedenktag zu Ehren der vertriebenen Deutschen“
Bei einer Gedenkfeier an die vertriebenen Ungarndeutschen im Parlament in
Budapest waren auch der Vorsitzende des BdV Hessen, Siegbert Ortmann (links)
sowie der stellvertretende Vorsitzende des BdV Hessen und Präsident des
deutsch-europäischen Bildungswerkes, Georg Stolle (rechts), dabei. In der
Bildmitte der Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen,
Otto Heinike.
Offizielle Einladung zum Gedenktag der Verschleppung und Vertreibung.